
Wenn Grundstücke knapp und teuer sind, ist die Aufstockung bestehender Gebäude eine attraktive Option. Die Maßnahme ist wirtschaftlich sinnvoll und schont die Umwelt – doch nicht selten stehen ihr bauliche und rechtliche Hürden im Weg. Von Christian Hunziker
Der Tour Montparnasse ist eines der bekanntesten Bauwerke der französischen Hauptstadt. Eines der schönsten ist der 1973 errichtete und 209 Meter hohe Turm im 15. Pariser Arrondissement hingegen bestimmt nicht. Ganz im Gegenteil gilt das Bürohochhaus vielen Beobachtern als architektonischer Schandfleck. Doch das wird sich ändern: Im Dezember 2021 hat das zuständige Gericht, das Tribunal Administratif, grünes Licht für die seit Längerem geplante Komplettsanierung des Objekts gegeben. Nach den Plänen des Architekturbüros Nouvelle AOM soll der Tour Montparnasse nicht nur eine freundlichere Fassade bekommen, sondern auch um 20 Meter auf dann 229 Meter aufgestockt werden.
Damit ist der Tour Montparnasse ein prominentes Beispiel für eine Baumaßnahme, die immer mehr an Bedeutung gewinnt: die Aufstockung von Bestandsimmobilien. Diese hat mehrere Vorteile, wie die Technische Universität (TU) Darmstadt und das in Hannover ansässige Pestel-Institut in ihrer 2019 veröffentlichten „Deutschlandstudie“ darlegen: Die Aufstockung erhöht nicht nur die Nutzfläche eines Gebäudes und damit seine Wirtschaftlichkeit, sondern ist auch ökologisch positiv zu bewerten. „Neues Bauland zu erschließen ist nur begrenzt möglich und mit unseren Klimaschutzzielen nicht vereinbar“, begründet dies Karsten Tichelmann, Professor am Fachbereich Architektur der TU Darmstadt. „Warum also nicht neuen Wohnraum ohne die Versiegelung neuer Baugrundstücke fordern und fördern?“
Aufstockungen ermöglichen attraktive Wohn- und Gewerberäume
Wie groß das Potenzial der Aufstockung insbesondere für die Schaffung von Wohnraum ist, macht die Studie der TU Darmstadt und des Pestel-Instituts deutlich. Demnach könnten in Deutschland auf Wohngebäuden aus den 50er- bis 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts zwischen 1,1 und 1,5 Millionen zusätzliche Wohnungen geschaffen werden. Weitere 560.000 Wohneinheiten ließen sich nach Ansicht der Studienautoren durch die Aufstockung von Büro- und Verwaltungsgebäuden realisieren. „Aufstockungen bestehender Gebäude können einen entscheidenden Beitrag zur Lösung der Wohnungsnot vor allem im innerstädtischen Bereich leisten“, heißt es auch beim GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, der zusammen mit Verbänden der Baustoffindustrie eine „Hunderttausend-Dächer-Initiative“ gestartet hat. „Grundsätzlich ist die Aufstockung von Wohngebäuden eine sinnvolle Lösung“, bestätigt Monika Fontaine-Kretschmer, Geschäftsführerin der Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte/Wohnstadt, die knapp 60.000 Wohnungen im Bundesland Hessen besitzt. Allerdings müsse immer im Einzelfall geprüft werden, ob eine Aufstockung wirtschaftlich und technisch umsetzbar sei.
Positiv fiel diese Prüfung bei der Fritz-Kissel-Siedlung in Frankfurt am Main aus. In dieser in den 1950er-Jahren errichteten Wohnanlage schuf die Nassauische Heimstätte durch die Aufstockung von 14 Mehrfamilienhäusern 82 zusätzliche Ein- bis Vier-Zimmer-Wohnungen. Erheblich erleichtert wurde die Aufstockung laut Fontaine-Kretschmer durch die streng orthogonale Gebäudestruktur. Als weiterer Vorteil erwiesen sich die weitläufigen Abstände zwischen den Gebäudezeilen – dadurch werden die umliegenden Wohnungen trotz der Aufstockung nicht verschattet. Um die Statik nicht zu überfordern, wurde die Aufstockung mit vorgefertigten Holzmodulen ausgeführt. Dennoch musste das Fundament stellenweise in geringem Umfang ertüchtigt werden. Die Statik ist einer der Knackpunkte, die bei der Prüfung einer Aufstockung stets zu berücksichtigen sind. „Kritische Themen sind in der Regel Brandschutz und Fluchtwege sowie die Statik des Bestandsgebäudes“, sagt Simon Dietzfelbinger, Partner bei der Beratungsgesellschaft Drees & Sommer. Dabei spricht nach seinen Worten vieles dafür, bei der Aufstockung mit Holz zu arbeiten. Dieser Baustoff habe den Vorteil, leichter zu sein als Stahl, und er weise zudem einen vergleichsweise guten Dämmwert auf. „Holzkonstruktionen“, ergänzt Dietzfelbinger, „lassen sich auch sehr gut vorfertigen, was Zeit und Kosten spart.“
Kritische Themen sind in der Regel Brandschutz und Fluchtwege sowie die Statik des Bestandsgebäudes.
Bauherren und Planer müssen die kritische Punkte sorgfältig klären
Untersucht werden müssen laut dem Experten von Drees & Sommer auch die rechtlichen Anforderungen, insbesondere die Frage, ob eine Erhöhung baurechtlich überhaupt zulässig ist. Bei denkmalgeschützten Gebäuden ist zudem zu prüfen, ob das Objekt grundsätzlich verändert werden darf. Ausgeschlossen ist das nicht, wie Union Investment beim unter Denkmalschutz stehenden ehemaligen Unilever-Firmensitz in Hamburg bewiesen hat. Im Zuge der umfangreichen Sanierung erhielt das zwischen 1961 und 1964 errichtete jetzige Emporio zwei zusätzliche Etagen, sodass es nun 24 Geschosse aufweist. „Durch die Aufstockung konnten wir zusätzliche Flächen generieren und so den Wert der Immobilie erhöhen“, sagt Cyril Hübner, Senior Project Manager bei der Union Investment Real Estate GmbH, der das 2011 abgeschlossene Sanierungs- und Aufstockungsprojekt leitete.
Nicht immer ist eine Aufstockung als solche auch erkennbar
Hilfreich bei der Diskussion mit den Denkmalschutzbehörden war, wie sich Hübner erinnert, die Argumentation des damaligen Hamburger Oberbaudirektors. Dieser wies darauf hin, dass zahlreiche Gebäude in Hamburg aufgestockt worden seien, sodass die zusätzlichen Etagen des Emporio den Anblick der Stadtsilhouette nicht beeinträchtigten. Optisch unterscheiden sich die neuen Etagen nicht von den darunterliegenden Geschossen.
Eine Herausforderung war auch beim Emporio die Statik. „Die statische Prüfung ergab, dass die Fundamente die zusätzlichen Geschosse tragen können“, sagt Hübner. „Das war wichtig für das Projekt, weil eine Ertüchtigung der Fundamente sehr aufwendig gewesen wäre.“ Verstärkt werden mussten lediglich die vertikalen Stahlstützen im obersten Geschoss des Bestandsgebäudes. Kein Hindernis stellten die Brandschutzanforderungen dar, da die vorhandenen drei Fluchtwege für die zusätzlich geschaffenen Flächen ausreichten.
Dachaufbauten können die Architektur eines Gebäudes deutlich aufwerten
Das Emporio und der Tour Montparnasse sind nicht die einzigen Beispiele, die zeigen, dass eine Aufstockung nicht nur bei Wohn-, sondern auch bei Büroimmobilien eine sinnvolle Maßnahme sein kann. In Berlin etwa saniert der Immobilienkonzern Signa derzeit das im historischen Zentrum gelegene Schicklerhaus und ergänzt es dabei in Leichtbauweise durch drei zusätzliche Geschosse. Dabei habe es einige Überraschungen gegeben, berichtet Projektleiter Georg Kölbl – zum Beispiel Stützen, die sich als nicht tragfähig erwiesen, oder Träger, die zu früh endeten. Für die Aufstockung eignen sich darüber hinaus noch viele andere Immobilien – beispielsweise Parkhäuser, wie ein weiteres Projekt in Berlin zeigt. Im Stadtteil Lichtenberg entstand über dem Parkhaus des von ECE betriebenen Einkaufszentrums Ring-Center 2 auf ungewöhnliche Weise ein Hotel der Marke Niu. Dafür setzte die Firma HQ Real Estate Holzmodule auf das Dach des Parkhauses.
In Hamburgs Mitte entwickelt sich sogar ein Hochbunker in die Höhe
Besonders spektakulär ist ein Vorhaben im Hamburger Stadtteil St. Pauli. Dort lässt eine Gesellschaft des Investors Thomas Matzen den 1942 errichteten Hochbunker umbauen und in die Höhe wachsen. Fünf zusätzliche pyramidenartige Geschosse entstehen, die neben einem Hotel und einem Restaurant auch eine Sport- und Veranstaltungshalle aufnehmen.
Die Tragkonstruktion der Aufstockung besteht größtenteils aus Stahlbeton, wobei sich die massive Baustruktur des Bunkers als Vorteil erweist: Die zusätzliche Last wird über die bis zu zweieinhalb Meter dicken Wände in die Bodenplatte abgeleitet.
Billig allerdings sind solche Aufstockungsmaßnahmen nicht. Vor allem wenn eine statische Ertüchtigung erforderlich werde, könnten hohe Kosten anfallen, so Simon Dietzfelbinger von Drees & Sommer. Hinzu kommt, dass eine Aufstockung manchmal daran scheitert, dass die Brandschutzanforderungen zu aufwendig sind oder die Abstandsflächen zu den Nachbargebäuden unterschritten werden.
Der wohnungswirtschaftliche Dachverband GdW fordert deshalb, die derzeitigen Regelungen zu Abstandsflächen, Stellplatzpflichten und Brandschutz flexibler zu gestalten und so dazu beizutragen, dass „Bauherren dazu ermuntert werden, Wohnraum durch Aufstockungen und Dachausbauten zu schaffen“.
Von Christian Hunziker