
Die coronabedingten Lockdowns waren wohl die bislang härteste Bewährungsprobe für den Einzelhandelsimmobilien-Sektor überhaupt. Nun ziehen neue Wolken am Horizont auf, viele Händler und Vermieter sind aber nach der Krise besser auf die anstehenden Turbulenzen vorbereitet. Von Judi Seebus
Nach zwei Jahren im Überlebensmodus konnten Einkaufszentren, High-Street-Einzelhändler und Gastronomie Anfang 2022 endlich wieder zur Normalität übergehen. Die Menschen strömten wieder in die Geschäfte und Restaurants, um das gesparte Geld für Luxusgüter und Treffen in geselliger Runde auszugeben. So kehrten die Umsätze rasch auf das Vor-Pandemie-Niveau zurück. „Auch wenn sich die Verbraucherstimmung deutlich verbessert hat, ist keineswegs davon auszugehen, dass nun wieder Zustände wie in den Goldenen Zwanzigern herrschen“, warnt Robert Travers, Leiter EMEA Retail bei Cushman & Wakefield. „Alle Zeichen deuten auf eine Konjunkturabschwächung hin.“
Die steigende Inflation und stark anziehende Zinsen sind Vorboten von neuen wirtschaftlichen Turbulenzen. Dabei steckt der Einzelhandel noch mitten in einem tiefgreifenden Wandel vor dem Hintergrund des Megatrends Omnichannel. Die pandemiebedingten Schließungen haben diesen Prozess beschleunigt, somit ist der Onlinehandel inzwischen für viele Einzelhändler zur wichtigen Umsatzsäule geworden. „Am Onlinemarkt sind aktuell zwei Entwicklungen zu beobachten: Um ihre Kosten zu senken und die Umwelt zu schonen, gehen die Händler dazu über, Rücksendungsgebühren zu verlangen und die kostenlose Abholung im stationären Handel anzubieten“, so Travers. „Wie bei jeder Entwicklung wird es Gewinner und Verlierer geben. Aber diejenigen, die die Pandemiekrise gemeistert haben, sind für die kommenden Herausforderungen besser gewappnet. Von daher dürfte die Situation weniger brenzlig werden.“
Zu den Gewinnern zählen ohne Frage Lebensmittelmärkte, Supermärkte und Sportgeschäfte sowie generell Anbieter von Produkten, die der Gesundheit und dem Wohlbefinden dienen. Auch Gastronomie und Unterhaltungsbranche profitieren derzeit von der Wiederbelebung der Nachfrage, da die Verbraucher jetzt wieder auswärts essen und Unterhaltung suchen, nachdem sie zwei Jahre nur zu Hause Netflix schauen konnten. „Der zur Grundversorgung zählende Lebensmittelhandel wird zwar immer ein Hauptelement des Einzelhandels bleiben, hat aber mit schmalen Gewinnmargen zu kämpfen. Hier werden sich die Konsumausgaben vermutlich von Markenprodukten zu Eigenmarken sowie vom gehobenen Lebensmitteleinzelhandel zu den Discountern verlagern, die mit den neuen Marktbedingungen besser zurechtkommen dürften“, meint Herman Kok, Vorsitzender des niederländischen Immobilienverbands Kern, der unter anderem den Einzelhandel vertritt.
Im Lebensmitteleinzelhandel werden sich die Konsumausgaben vermutlich von Markenprodukten zu Eigenmarken sowie vom gehobenen Lebensmitteleinzelhandel zu den Discountern verlagern.
Nach zwei Jahren im Überlebensmodus konnten Einkaufszentren, High-Street-Einzelhändler und Gastronomie Anfang 2022 endlich wieder zur Normalität übergehen. Die Menschen strömten wieder in die Geschäfte und Restaurants, um das gesparte Geld für Luxusgüter und Treffen in geselliger Runde auszugeben. So kehrten die Umsätze rasch auf das Vor-Pandemie-Niveau zurück. „Auch wenn sich die Verbraucherstimmung deutlich verbessert hat, ist keineswegs davon auszugehen, dass nun wieder Zustände wie in den Goldenen Zwanzigern herrschen“, warnt Robert Travers, Leiter EMEA Retail bei Cushman & Wakefield. „Alle Zeichen deuten auf eine Konjunkturabschwächung hin.“

Die Erholung wurde ausgebremst, Gewinner zeichnen sich trotzdem ab
Trendforscher tun sich schwer mit der Einschätzung, wie sich der Einzelhandel in dem aktuell turbulenten wirtschaftlichen Umfeld entwickeln wird. Der Global Retail Attractiveness Index von Union Investment knickte in Europa nach einer starken Aufholjagd im ersten Quartal (+12 Punkte) im zweiten Quartal um minus 3 Punkte gegenüber dem Vorjahreszeitraum ein. Das Geschäftsklima bleibt angespannt, nachdem der Ausbruch des Krieges in der Ukraine die Erholung des Einzelhandels in ganz Europa gebremst hat und internationale Ketten wie zum Beispiel H&M und Zara eine Reihe von Filialen schließen mussten. Sollte die Inflation länger andauern, werden die Verbraucher vor allem größere Investitionen aufschieben. Für Kok stellt sich die Frage, wie sich die Inflation auf das Konsumverhalten auswirken wird. Einrichtungsgeschäfte und Baumärkte hätten während der Pandemie einen Boom erlebt, da die Verbraucher mehr Geld für größere Anschaffungen übrig hatten. Er rechnet in diesen Segmenten nun mit einer Marktkorrektur.
Zu den Gewinnern gehören außerdem derzeit Einzelhändler im günstigen Preissegment wie etwa die schwedische Modekette H&M, die bis 2030 eine Umsatzverdopplung anstrebt, sowie die spanische Inditex-Gruppe, die nach der Optimierung ihres Filialnetzes in Westeuropa und anderen Regionen im ersten Quartal 2022 das beste Ergebnis seit zehn Jahren verzeichnete. Am anderen Ende der Skala steigerte die Luxusgüterkette „LVMH Moët Hennessy – Louis Vuitton“ im Geschäftsjahr 2021 den Umsatz um 44 Prozent gegenüber dem Vorjahr beziehungsweise um 20 Prozent im Vergleich zu 2019.
Einzelhändler, die schon vor der Pandemie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten und denen es nicht gelungen ist, sich neu zu erfinden, oder aber die es versäumt haben, ihre Ladenformate und Standorte an die geänderten Marktverhältnisse anzupassen, stehen auch weiterhin unter Druck. Dies gilt vor allem für Modemarken im mittleren Marktsegment, die zwischen den Luxusanbietern wie Louis Vuitton und Dior und günstigen Marken wie zum Beispiel Zara und Primark angesiedelt sind. Travers meint: „Diese beiden Pole bleiben unverändert. Auf Einzelhändler ohne klares Angebot kommen hingegen härtere Zeiten zu.“

Der Wettbewerb um die besten Objekte nimmt je nach Stadt und Segment zu
Auch wenn der Onlinehandel als Sieger aus der Coronapandemie hervorgegangen ist, erlebt der stationäre Handel gerade ein Comeback. Selbst Händler, die erst durch das Internet groß geworden sind, erkennen inzwischen den Wert einer Vor-Ort-Niederlassung. Derweil hält die Mehrheit der kürzlich von der Immobilienberatung CBRE dazu befragten Einzelhändler den stationären Handel für effektiver als den Onlinehandel, insbesondere wenn es um das Cross-Selling und die Kundenbindung geht.
Der Vermietungsmarkt erholt sich seit einiger Zeit, nachdem er 2020 einen Tiefpunkt erreicht hatte: Bei Cushman & Wakefield entfielen im Jahr 2021 rund 75 Prozent der Transaktionen in der EMEA-Region auf Neuvermietungen, da die Nutzer von der Neuverhandlung bestehender Verträge abrückten und stattdessen neue Räumlichkeiten anmieteten. „Hochwertige Bestandsimmobilien werden knapp“, erklärt Robert Travers. „Die strukturelle Leerstandsquote sinkt je nach Stadt und Segment, der Wettbewerb um die besten Objekte nimmt zu. Das wird sich letztendlich positiv auf die Mietpreise auswirken, wobei abzuwarten bleibt, wie tief die Konjunktur einbricht.“
Wenn der Einzelhandel immer stärker auf Omnichannel-Strategien setzt, stellt sich die Frage, auf welcher Basis künftig die Mieten berechnet werden. Insbesondere bei Einkaufszentren sind umsatzbezogene Mieten in weiten Teilen Europas schon gang und gäbe. Auch im Vereinigten Königreich gewinnen sie langsam an Akzeptanz. Dazu Herman Kok: „Umsatzbezogene Mieten geben dem Vermieter die Möglichkeit, die wirtschaftliche Entwicklung seiner Mieter nachzuvollziehen. Die entscheidende Frage lautet dabei, was als Umsatz gelten soll. Das Thema wird momentan intensiv diskutiert, und viele verschiedene Szenarien wären möglich. In den Innenstädten zahlen Händler häufig eine Basismiete, die sich aus der Besucherfrequenz und der Ladenfläche ergibt. Aber wie geht man mit der Tatsache um, dass viele Verbraucher sich die Produkte im Geschäft lediglich anschauen und dann zu Hause online bestellen? Daher müssen die Kenngrößen und Berichtsmethoden künftig eindeutiger definiert werden, um mehr Markttransparenz zu schaffen.“

Investitionen in Einzelhandelsimmobilien gewinnen an Attraktivität
Das Interesse an geeigneten Einzelhandelsimmobilien nimmt wieder zu und die Branche stellt sich auf eine verstärkte Transaktionstätigkeit ein, wobei eigenkapitalstarke Investoren ganz vorn am Start sind. Die Preise für hochwertige Objekte und dabei insbesondere für lebensmittelgeankerte Fachmarktzentren blieben während der Pandemie zwar recht stabil, aber insgesamt wurde der Sektor stark abgestraft.
Die durchschnittliche Rendite für Einkaufszentren stieg somit europaweit auf 6 bis 7 Prozent. „Angesichts von Renditen, die in den meisten anderen Marktsegmenten wie etwa Wohn- und Logistikimmobilien bei rund 3 Prozent liegen, gewinnen Einzelhandelsimmobilien an Attraktivität“, so Robert Travers. „Investoren hatten bislang vor allem Fachmarktzentren im Visier, die sich während der Pandemie überdurchschnittlich entwickelten. Inzwischen nimmt auch die Marktaktivität im Bereich Einkaufszentren zu.“
Das neue Interesse an Einzelhandelsimmobilien in Europa geht in erster Linie von europäischen Investoren aus. Nordamerikanische und asiatische Anleger verharren in Wartestellung, vor allem aufgrund des Krieges in der Ukraine und dessen unabsehbare Folgen für den europäischen Markt. Einige auf den Einzelhandel spezialisierte Immobiliengesellschaften prüfen auch den Kauf nicht mehr benötigter Einzelhandelsflächen, um sie in gemischt genutzte Flächen, unter anderem für Wohnen und Freizeit, umzuwandeln. Praktisch alle Märkte europaweit erleben zurzeit eine Wiederbelebung der Investitionen in Einzelhandelsimmobilien, die allerdings von einem niedrigen Niveau ausgeht. Und jetzt sei kein schlechter Zeitpunkt für einen Markteinstieg, wie Robert Travers anmerkt.
„Man muss allerdings jede Stadt und jedes Objekt im Einzelfall prüfen. Aber das ist das Schöne am Einzelhandel: Jeder Markt ist anders und die Chancen sind stark von den einzelnen Sektoren und von der Lage abhängig“, so sein Fazit.
Von Judi Seebus